TVT - Theologischer Verlag Tübingen
Buchumschlag Richard Mössinger
Jörg Ratgeb
Maler des Mitleids. Ein Bilderbuch für Er­wach­sene.
TVT-Medienverlag 2025
83 Seiten, 115 Abb. (farbig)
20 Euro
ISBN 978-3-929128-67-3




Ein jahrhundertelang übersehener Künstler, der als Meister des Mitleids heute noch der Be­trach­tung wert ist (S. 82) – darum geht es dem langjährigen Heilbronner Pfarrer Dr. Richard Mössinger in seinem „Bilderbuch für Erwachsene“, das Leben und Werk Jörg Ratgebs auf faszinierende Weise in den Blick nimmt. Richard Mössingers Buch erscheint zu Beginn des Bauernkriegs-Gedenkjahrs 2025, das mit zahlreichen Publikationen, Veranstaltungen und Aus­stel­lun­gen begangen wird. Der lange übersehene Künstler hat in diesem Bauernkriegs-Gedenken die ihm gebührende historische Einordnung bekommen. So beschreibt etwa Christian Pantle in seiner mitreißenden historischen Erzählung (Der Bauernkrieg, Deutschlands großer Volksaufstand, Berlin 2024), wie Jörg Ratgeb im Auftrag der Stuttgarter Bürgerschaft mit den vor den Toren Stuttgarts stehenden Bauernhaufen verhandelt und die Bauern dabei so beeindruckt, dass sie ihn zu ihrem Kanzler wählen. (Pantle, S. 135-148) Auch die Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg „Herzog Ulrich und die Bauern im Krieg von 1525“ (29.01.-25.04.2025 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung, Jan Thorbecke Verlag 2025) widmet ein Kapitel der Rolle Jörg Ratgebs, der bei der Stuttgarter Delegation zu den Bauern deshalb dabei war, weil man sich von dessen bauernfreundlicher Haltung einen besseren Verhandlungserfolg erhofft habe (S. 31).

Unter der Überschrift „Spuren seines Lebens“ (S. 6-10) gelingt es Mössinger, über die historische Verortung des Künstlers hinaus den Menschen Jörg Ratgeb und seine Haltung zu skizzieren, indem er die historisch fassbaren Spuren des Künstlers mit den Motiven seiner Bilder in Verbindung bringt: Um 1480 als Jörg Schürz in Schwäbisch Gmünd geboren, fügt er später den Künstlernamen Ratgeb hinzu. Der Umstand, dass seine Frau eine Leibeigene des württembergischen Herzogs Ulrich war, schränkt seine Möglichkeiten ein. In Stuttgart kann er nicht Fuß fassen. In Heilbronn, von wo aus er den Schwaigerner Barbara-Altar gemalt hat, bleibt er drei Jahre als Gast, muss dann aber weiterziehen. In den Karmeliterklöstern in Hirschhorn und Frankfurt bekommt er große Aufträge, ehe er 1518 nach Herrenberg gerufen wird und in der dortigen Stiftskirche den „Herrenberger Altar“ malt. Kurz vor Ausbruch des Bauernkriegs finden sich seine Spuren wieder in Stuttgart. Wie schon erwähnt, wird er 1525 von den Bauern zu ihrem Kanzler gewählt. Gerade einmal gut zwei Wochen berät er die Bauern, verhandelt für sie und leitet die Stuttgarter Kanzlei. „Umso mehr verwundert, dass der Verantwortliche für die Kanzlei am Ende zu den wenigen gehört, die blutig büßen müssen. An Jörg Ratgeb wird ein Exempel statuiert. 1526 wird er in Pforzheim zum Tod durch Vierteilen verurteilt. Der Maler wird zum Opfer eines sozialen Aufstands, der für die Bauern mehr Gerechtigkeit erreichen sollte.“ (S. 10) Diese historischen Spuren verdichten sich für Mössinger zu einer Künstlerpersönlichkeit, die das Leiden ihrer Zeit wahr- und ernstgenommen hat. Die Ehe mit seiner leibeigenen Frau hat seine Mitleidsfähigkeit vertieft. (S. 10.82)

Dieser in seiner Biografie und in seinem Werk für das Leiden sensibilisierte Künstler war hochgebildet. Seine für die Zeit moderne humanistische Bildung wird in seiner Malerei erkennbar, in der sich z.B. vielfach lateinische, griechische und hebräische Schriftzeichen und zahlreiche Hinweise auf Bibelstellen finden. Trotz seiner großen Gaben wurde der Künstler nicht überheblich. Im Gegenteil: Seine Haltung war geprägt von Empathie-Fähigkeit für das Ergehen seiner Zeitgenossen, für das Leiden seiner Nächsten. Tragischerweise ist er seiner eigenen Solidarität zum Opfer gefallen. Den Übergang von der Biografie zum künstlerischen Werk präludiert Mössinger mit den Worten: „Die Themen seiner Bilder, das Schicksal der Märtyrer, die wandernden Jünger, die keine irdische Heimat haben, das Opfer Jesu, zeigen etwas von seiner Biografie.“ (S. 10)

Um den Eindruck der Persönlichkeit Ratgebs zu vertiefen, führt Mössinger die Lesenden zu der Altartafel des Herrenberger Altars, auf der in der Szene der Verlobung Marias mit Joseph die Frau Jörg Ratgebs und der Künstler selbst eingezeichnet sind: „Er selber erscheint alltäglich und macht nichts Besonderes aus sich. Sinnend sieht er schräg nach oben.“ (S. 61) Es gehört zu den Qualitätsmerkmalen von Mössingers „Bilderbuch für Erwachsene“, dass der Text mit zahlreichen farbenprächtigen Fotos das Werk Ratgebs in Gesamt-Aufnahmen und in Detail-Ausschnitten zeigt, so auch die eben beschriebene Szene. Sehr passend ziert das Selbstporträt Jörg Ratgebs die Titelseite von Mössingers Buch und vermittelt einen nachhaltigen bildhaften Eindruck der Künstlerpersönlichkeit.

In den folgenden Kapiteln unternimmt Mössinger mit den Lesenden eine Zeitreise durch die erhalten gebliebenen Bilder und Fragmente des Ratgebschen Werks, die auf den Herrenberger Altar zuläuft. Zu Recht widmet Mössinger rund ein Drittel seines Buches diesem Meisterwerk Ratgebs (S. 56-82). Vom Herrenberger Altar sind zwei Tafeln mit der Sendung der Apostel erhalten, vier Passionsbilder und zwei Marienbilder (eines davon mit Selbstporträt des Künstlers). Aus der lesenswerten Fülle der Ausführungen Mössingers sei auf zwei Punkte hingewiesen:

Zum einen: Das Motiv der Apostelaussendung begegnet bereits in Ratgebs frühem Werk des Barbara-Altars in Schwaigern (S. 11-14). Mössinger beobachtet, dass die Welt auf dem Herrenberger Altar eine andere geworden ist: Als ob die Entdeckungsreisen des Kolumbus inzwischen auch bei Ratgeb „angekommen“ sind, ist aus der heimatlich wirkenden Landschaft in Schwaigern nun in Herrenberg eine offene, weite Welt mit direktem Anschluss ans Meer geworden; die Welt wird nicht mehr in schwäbischer Gemächlichkeit durchwandert, sondern mit ungestümer Leidenschaft durchstürmt (S. 57) Das Motiv der wandernden Apostel, war Ratgeb deshalb so nah, weil er als Künstler keine bleibende Stadt fand, weil ihm etwa das Heilbronner Bürgerrecht wegen seiner leibeigenen Ehefrau nicht gewährt wurde. (S. 82) Zum anderen: Auf keinem anderen Bild ist das Anliegen der Vergegenwärtigung biblischer Szenen so deutlich gestaltet wie auf dem zweiten der vier Passionsbilder, der Bildtafel „Geißelung Jesu“: Die Leidensgeschichte Jesu gehört in die Gegenwart. So weist Mössinger etwa auf ein bemerkenswertes Detail im Hintergrund: der Habsburger Fahne auf einem Torturm. Zur Entstehungszeit des Bildes brandaktuell hatten die Habsburger 1519 nach der Vertreibung Herzog Ulrichs das Württemberger Land besetzt. „Sie waren die fremden Herren, die in Württemberg wie die Römer in Israel herrschten. Der Römer Pilatus (durch Doppelkinn, vorstehende Unterlippe und gebogene Nase wie ein Habsburger porträtiert) war für Ratgeb ein Zeitgenosse. Er steht in seinen Augen unter der Fahne der Habsburger. Die Zwingherren waren für das Leiden verantwortlich, und manche Menschen im Lande arbeiteten ihnen in die Hände.“ (S. 70), so Mössinger. Ratgeb malt schonungslos die Brutalität der Folterung Jesu und seine Zurschaustellung. So bringt Ratgeb seine Sympathie mit den Leidenden seiner Zeit zum Ausdruck. Dabei weicht er der Hässlichkeit des Leidens nicht aus. Von der österlichen Hoffnung her, der er im Passionsbilder-Zyklus eine eigene Tafel widmet, kann er über das Leiden hinaussehen und schon in der Nacht den neuen Anfang aufleuchten sehen. (S. 82) Um ein Ende von Leiden und Unterdrückung, um ein Ende der Leibeigenschaft, für Freiheit und Gerechtigkeit in einer Gesellschaft freier Menschen – darum ging es im Kern bei der Erhebung der Bauern 1525. Mit ihrem Reformprogramm solidarisierten sich auch Bürger, Theologen und Künstler. Es ist Richard Mössingers Verdienst, die Haltung des Malers Jörg Ratgeb herausgearbeitet und einen intellektuellen, hochbegabten und anerkannten Künstler wiederentdeckt zu haben, dessen Augenmerk und Solidarität den geplagten Menschen seiner Zeit galten. „Eine Ratgeb-Renaissance wäre ein Plädoyer für Barmherzigkeit.“ (S. 82) Diesem Schlusssatz Mössingers ist nichts hinzuzufügen – außer dem Wunsch, dass sein Bilderbuch für Erwachsene weite Verbreitung finden und Ratgebs Fähigkeit zum Mitleid viele berühre.

Dr. Martin Hauff, Ravensburg



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